Die Produktivitätsfrage
Ein Gedankenexperiment: Zwei Manager, selbe Firma, gleiche Qualifikation, identisches Jobprofil. Person 1 nutzt Full Stack KI-Integration. Person 2 agiert unter datenschutzrechtlichen Prämissen. Was bedeutet das für die Karrieren der beiden? Und was für die Produktivität innerhalb ihrer Firmen?
Christian Hansen
10/30/20255 min lesen


Die Produktivitätsfrage
Was uns der Datenschutz kostet – und weshalb das durchaus ein Problem ist
Nichts gegen Datenschutz. Ich bin froh, dass ich wählen kann, wer meine Daten kriegt und wer nicht. Ich will kein gläserner Bürger sein. Und schon gar nicht will ich, dass all meine Daten auf irgendwelchen US-Servern zu fragwürdigen Zwecken aggregiert und vernetzt werden. Erst recht nicht, solange DT eine dritte Amtszeit anstrebt. Gleichzeitig arbeite ich täglich mit KI-Tools und sehe, welches Automatisierungs- und Assistenzpotential bereits heute in diesen Systemen steckt.
Kürzlich habe ich mir Perplexitys "Guide to Getting More Done" angesehen – und bin über ein Gedankenexperiment gestolpert, das mich nicht loslässt:
Zwei Personen, gleiche Firma, gleiche Position im Management, gleiche Qualifikation. Person 1 nutzt Perplexity im vollen Umfang: Email-Integration, direkter Zugriff auf Salesforce, Notion, Slack, automatisierte Performance-Analysen aus Unternehmenssystemen, Lead Intelligence durch Zusammenführung interner und externer Daten.
Person 2 – aus datenschutzrechtlichen Bedenken – beschränkt sich auf die unkritischen Funktionen: Web-Recherche, generische Content-Erstellung, Strategieberatung ohne Systemzugriff.
Die Frage, die mich umtreibt: Was bedeutet das für die Produktivität, Innovationskraft und letztlich die Jobrelevanz beider Personen? Und wenn Person 1 in den USA arbeitet und Person 2 auf unserem DSGVO-Kontinent – was heisst das dann für die europäische Wettbewerbsfähigkeit?
Das Gegen-Narrativ, das ich nicht kaufe
Bevor ich tiefer einsteige: Das immer wieder zitierte Gegenargument, dass KI gar nicht produktiver macht und sowieso nur Schund produziert, halte ich nach wie vor für Bullshit. Ich arbeite seit Jahren jeden Tag mit diesen Tools. Wenn man weiss, wie man sie benutzen muss – wenn man selbst Regie führt – sind sie Gold wert.
Niemand verblödet automatisch, wenn er strategisch und motiviert mit KI arbeitet. Im Gegenteil: Man lernt dazu, erweitert den Horizont, kommt auf Ideen, die einem allein nicht gekommen wären, profitiert von Denkpartnern, die nicht müde werden. Aber das funktioniert nur, wenn man die Hoheit über den Prozess behält. Wenn man nicht blind delegiert, sondern orchestriert.
Das ist die Prämisse, von der ich ausgehe. Wer KI anders nutzt – als Textmaschine für schnelle Outputs ohne kritische Reflexion – der bekommt Schund und wird sicher nicht smarter. Aber das ist in meinen Augen ein Nutzungsproblem, kein Technologieproblem.
Was vollständige Integration bedeutet
Zurück zum Gedankenexperiment. Person 1 hat also Zugriff auf einen komplett integrierten KI-Stack:
Zeitökonomie: Email-Assistenten, die automatisch triagieren, Antworten vorschlagen und Meeting-Koordination übernehmen. Wenn ich für ein Strategiepapier alle Email-Korrespondenzen zu einem Thema durchsuchen will, alle Meeting-Notizen der letzten Monate und relevante Dokumente aus drei verschiedenen Systemen – Person 1 bekommt das in Minuten. Person 2 braucht Stunden.
Konzeptarbeit: Für die Vorbereitung eines Workshops kann Person 1 das System fragen: "Welche Stakeholder-Gruppen haben wir in früheren Projekten bei ähnlichen Transformationsprozessen identifiziert? Welche Kommunikationsansätze haben funktioniert, welche nicht?" Das System durchsucht sämtliche Projektdokumentationen, Workshop-Protokolle und Evaluationen. Person 2 muss sich erinnern oder manuell suchen.
Kundenverständnis: Person 1 kann vor einem Beratungsgespräch fragen: "Zeig mir alle Interaktionen mit diesem Kunden in den letzten sechs Monaten – Emails, Meeting-Notizen, Projektdokumente. Welche Themen wiederholen sich? Wo gab es Missverständnisse?" Das System liefert eine Synthese. Person 2 verbringt eine Stunde vor dem Call damit, Kontext aus verstreuten Quellen zu rekonstruieren.
Ob der Perplexity-Guide mit seiner Einschätzung recht hat, dass Person 1 um ein Mehrfaches produktiver ist als Person 2, oder ob er übertreibt: Ein klarer Wettbewerbsvorteil ist unbestreitbar. Und ich finde mich selbst in diesem Konflikt: Was gebe ich frei, um zu profitieren? Was behalte ich für mich und mache es – zum Preis meiner Zeit und mentalen Bandbreite – weiterhin selbst?
Die Frage, die mir Sorgen bereitet
Was passiert über Zeit mit beiden Personen? Ich weiss es nicht. Aber es drängen sich Fragen auf:
Wird Person 1 mehr Projekte übernehmen können, weil die Administration weniger Zeit frisst? Wird sie tiefere Einblicke in komplexe Zusammenhänge gewinnen, weil sie schneller auf historische Daten zugreifen kann? Wird sie bessere Entscheidungen treffen, weil sie mehr Kontext zur Verfügung hat? Ich behaupte: ja, wird sie.
Und Person 2: Wird sie mehr Zeit mit Routineaufgaben verbringen müssen? Wird sie Chancen verpassen, weil die Informationsbeschaffung zu lange dauert? Wird sie in ihrer Entwicklung zurückfallen, nicht weil sie weniger kann, sondern weil sie mit weniger arbeiten muss? Auch hier: Ich behaupte, ja.
Ich bin kein Hellseher, ich weiss nicht, wie sich das alles langfristig auswirkt. Aber die Asymmetrie ist da. Und sie ist nicht trivial. Und sie hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch geopolitische Dimension: Wenn Person 1 in den USA sitzt und die vollen Möglichkeiten nutzt, während Person 2 in Europa aus regulatorischen Gründen eingeschränkt ist – was bedeutet das für unsere Wettbewerbsfähigkeit?
Das europäische Datenschutz-Dilemma
Die DSGVO schützt uns vor Dingen, die ich nicht will. Aber sie verhindert auch Dinge, die ich haben möchte. Das ist keine Polemik, sondern ein strukturelles Problem: Die Regulation zielt auf Missbrauch durch Dritte. Sie unterscheidet aber nicht wirklich zwischen "Daten werden an Facebook verkauft" und "Daten werden genutzt, um die eigene Arbeit effizienter zu machen".
Das Ergebnis: Wir haben Schutz ohne echte Alternative. Die Tools, die die mächtigen Integrationen bieten, sind US-kontrolliert: Perplexity, OpenAI, Anthropic, Google. Europa hat keine vergleichbar leistungsfähigen Lösungen im produktiven Einsatz (korrigiert mich, wenn ich mich irre).
Das Problem ist nicht nur individuell. Es ist strukturell:
Innovationsgeschwindigkeit: US-Firmen iterieren mit diesen Tools im Full-Stack. Europäische Firmen entwickeln innerhalb strenger und unklarer Compliance-Frameworks. Die Zeitdifferenz ist jetzt schon messbar und wird nicht schrumpfen.
Talentdynamik: Viele hochqualifizierte Professionals wollen mit den besten Tools arbeiten. Das ist keine Frage der Loyalität, sondern der professionellen Entwicklung. Wenn das nur ausserhalb Europas möglich ist, geht vermutlich ein Teil von ihnen.
Marktdynamik: Firmen, die in bestimmten Bereichen deutlich produktiver sind, können aggressiver preisen und schneller reagieren. Ob die Produktivitätssteigerung nun bei Faktor 1.5 liegt oder bei 5 – Konsequenzen für europäische Wettbewerber hat beides.
Das Paradoxon der digitalen Souveränität
Europa will digitale Souveränität und Datenschutz. Aber: Der gesamte KI-Stack ist US-kontrolliert. Perplexity, OpenAI, Anthropic, Google – alles US-Firmen. Das Ergebnis ist weder Innovation noch zuverlässiger Schutz. Sondern Reibungsverluste.
Mir kommen vier mögliche Wege in den Sinn, mit diesem Dilemma umzugehen:
Eigene Infrastruktur: Europa entwickelt DSGVO-konforme KI mit vergleichbarer Leistung. Das würde Jahre dauern und Milliarden kosten. Ob wir das hinbekommen, ist fraglich. Vor allem innerhalb unserer verhälltnismässig rigorosen Datenschutz- und IP-Gesetzgebung.
Regulatorische Anpassung: Differenzierte DSGVO-Ausnahmen für KI-Produktivitätstools mit klaren Governance-Frameworks. Politisch heikel, aber nicht unmöglich.
Hybride Modelle: On-Premise-Lösungen, die keine Daten an US-Server senden. Technisch komplex, teuer, aber machbar, soweit ich die Technologie verstehe (auch hier: korrigiert mich bitte, wenn ich mich irre).
Status Quo: Europa zahlt den Produktivitätspreis für Datenschutz. Das ist eine legitime Wahl – aber wir sollten ehrlich sein, welche Konsequenzen damit für uns verbunden sind.
und jetzt was?
Ich habe keine (einfache) Antwort. Ich sehe den Wert von Datenschutz. Ich sehe auch das Produktivitätspotential von KI – nicht, weil ich darüber lese, sondern weil ich es seit Jahren täglich erlebe.
Die Spannung zwischen beiden Polen ist real. Und sie wird grösser, je mächtiger diese Tools werden. Und das werden sie - ob nun die Sprachmodelle oder alternative Technologien aus dem Hause LeCun et.al.
Person 2 im Gedankenexperiment arbeitet in einem regulatorischen Umfeld, das legitime Werte schützt – aber Wettbewerbsnachteile mit sich bringt. Ob diese Nachteile marginal sind oder gravierend, wird sich zeigen. Ich fürchte, sie sind ziemlich bedeutend.
Die Frage ist also: Sind wir als Europäer*innen bereit, diesen Preis zu zahlen? Und wenn ja – sind wir bereit, ihn auch klipp und klar zu benennen, statt so zu tun, als gäbe es ihn nicht? Mitunter scheint mir, wir wären ein ziemlich verträumtes, in der saturierten Vergangenheit steckengebliebenes Grüppchen Menschheit. Mit edlen Werten, hohen Ansprüchen, aber auch einem gewissen Realitätsverlust.
Auch wenn ich nicht weiss, wie es wird: Ich finde, wir müseen darüber sprechen. Ehrlich. Ohne Panik, aber auch ohne Schönfärberei. Denn eine Produktivitätskluft – ob sie nun bei Faktor zwei oder fünf liegt – öffnet sich. Und das wird Konsequenzen haben.
___
Christian Hansen ist Kommunikations- und Strategieberater und Gründer von ANADAI, einem methodischen Ansatz für Mensch-Maschine-Zusammenarbeit.
ANADAI
Think better with generative AI
hello[at]anadai.net
+41 78 720 08 83
© 2025. All rights reserved.
Ahornstrasse 17
CH 4055 Basel
