DIE FOMO FALLE

Christian Hansen

9/23/20254 min lesen

Die FOMO-Falle

Ein Plädoyer für kognitive Vernetzung und Co-Intelligenz statt teurem Automatisierungstheater.

«Die Konkurrenz hat KI. Wir brauchen auch KI. Schnell.» Was aus dieser Logik heraus folgt, ist relativ vorhersehbar: Ein kopfloser Wettlauf um die besten Automatisierungsgeschichten, Millionenausgaben für die „KI-Transformation“ – und sechs Monate später die ernüchternde Erkenntnis, dass das meiste davon nicht wirklich funktioniert.

Herzlich willkommen im «AI FOMO-versum», in dem die Angst, etwas zu verpassen, strategisches Denken verdrängt, in dem das Potential künstlicher Intelligenz systematisch verwässert wird, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, zu kapieren, was sie eigentlich am besten kann.

Intelligenz verstärken, nicht auslagern

Wenn die Zahlen, die herumschwirren, stimmen, haben weltweit über 70% der Unternehmen in irgendeiner Form KI eingeführt. Aber nur 4–5 % erzielen offensichtlich einen nennenswerten Mehrwert aus diesen Investitionen. Begründet wird diese Kluft mit «unrealistischen Erwartungen von Führungskräften» an das, was KI tatsächlich leisten kann.

Die Schuld daran liegt nicht bei der KI, sondern in der Art und Weise, wie wir sie nutzen: Als eine Art digitale Zauberkiste, in die man Daten reinschmeisst und intelligente Lösungen herausbekommt. Das ist, behaupte ich, ein grundlegendes Missverständnis dessen, worin KI hervorragend ist.

KI ist kein Ersatz für menschliche Intelligenz. Sie ist ihr Verstärker. Und wie jeder Verstärker macht sie alles lauter – auch das Rauschen und die schrillen Rückkopplungen.

«Shit In, Shit Out» gilt auch und gerade für AI

KI-Systeme sind Mustererkennungs-Maschinen. Sie verstehen nichts wirklich, sie denken nicht über Konsequenzen nach und sie verstehen Ihr Geschäft sicherlich nicht besser als Sie selbst. Sie sind hervorragend darin, strukturelle Zusammenhänge in grossen Datensätzen zu finden und sich wiederholende Aufgaben mit klaren Parametern zu automatisieren.

Wenn Sie einem KI-System aber unklare Ziele, schlecht strukturierte Daten oder Prozesse zuführen, die Menschen selbst nicht vollständig verstehen, erhalten Sie keine Lösungen, sondern automatisierte Verwirrung. Aus diesem Grund scheitern so viele KI-Implementierungen spektakulär: nicht, weil die Technologie fehlerhaft ist, sondern weil wir sie auffordern, Probleme zu lösen, die wir nicht hinreichend spezifiziert haben.

Nehmen wir zum Beispiel einen Gesundheitsdienstleister, der sich beeilt hat, ein KI-Kundendienstsystem zu implementieren. Das Projekt scheitert nicht, weil KI nicht in der Lage ist, Kundendienstaufgaben zu bewältigen, sondern weil das Unternehmen sich nicht die Zeit genommen hat, die komplexen Entscheidungsbäume zu kartieren, in denen die menschlichen Mitarbeitenden täglich herumklettern.

Die Intelligenzlücke

Die eigentliche Chance der KI besteht nicht darin, das menschliche Denken zu ersetzen, sondern es zu erweitern. Dazu bedarf es einer «kognitiven Kopplung»: der bewussten Zusammenarbeit von Mensch und Maschine als integriertes Intelligenzsystem.

Anstatt zu fragen «Wie kann KI diesen Prozess automatisieren?», ist die bessere Frage: «Wie kann KI die menschliche Entscheidungsfindung in diesem Prozess verbessern?». Damit verlagert sich der Fokus von der Auslagerung auf die Verbesserung, vom Ersatz auf die Partnerschaft – und der Human in the loop bleibt mit seinen Kompetenzen, Erfahrungen und Intuitionen die kontrollierende Instanz.

Teures Automatisierungs-theater

Wenn Unternehmen die Phase der kognitiven Kopplung überspringen und direkt zur vollständigen Automatisierung übergehen, entsteht das, was man als «Automatisierungstheater» bezeichnen könnte – Systeme, die hochentwickelt erscheinen, aber in Wirklichkeit unausgereift, undurchsichtig und deshalb anfällig für spektakuläre Ausfälle sind.

Die versteckten Kosten sind nicht nur finanzieller, sondern auch kultureller Natur: Teams werden skeptisch gegenüber KI, Führungskräfte verlieren das Vertrauen in ihre Technologiestrategien und Unternehmen verpassen echte Chancen, ihre Abläufe zu verbessern.

Gemeinsam Steine aus dem Weg räumen

Die Unternehmen, die mit KI erfolgreich sind, sind nicht diejenigen, die am schnellsten vorankommen, sondern diejenigen, die strategisch vorgehen. Sie beginnen damit, menschliches Fachwissen zu erfassen, implizites Wissen explizit zu machen und dann spezifische Punkte zu identifizieren, an denen KI einen sinnvollen Beitrag leisten kann.

Dieser Prozess erfordert Geduld. Es bedeutet, Zeit damit zu verbringen, zu verstehen, wie die besten Mitarbeitenden Entscheidungen treffen, welche Informationen sie verwenden, welche Muster sie erkennen und wo die Steine liegen, die sie mit KI aus dem Weg räumen könnte.

Strategische Fragen stellen

Vor der Implementierung einer KI-Lösung sollten Führungskräfte klare Antworten auf folgende Fragen verlangen:

  1. Welchen spezifischen menschlichen Entscheidungsprozess versuchen wir zu verbessern? Wenn Sie den aktuellen Prozess nicht klar beschreiben können, wird die Automatisierung voraussichtlich scheitern.

  2. Wie sieht Erfolg aus und wie messen wir ihn? «Wettbewerbsvorteil» ist keine Kennzahl. «Reduzierte Bearbeitungszeit von 3 Stunden auf 30 Minuten mit 95% Genauigkeit» ist eine.

  3. Was passiert, wenn die KI falsch liegt? Jedes KI-System wird irgendwann versagen. Wie erkennen und beheben Menschen diese Fehler?

  4. Wie warten und verbessern wir das System im Laufe der Zeit? KI-Modelle verlieren ohne kontinuierliches Training und Überwachung an Qualität. Wer trägt diese Verantwortung?

Erst nachdenken, dann handeln

Die Zukunft gehört nicht den Unternehmen mit der meisten KI, sondern denen, die am besten verstehen, wie man menschliche und maschinelle Intelligenz miteinander vernetzt.

Die MIT-Studie zeigt: 95% scheitern nicht an der Technologie, sondern an ihrer Anwendung. Die wenigen Erfolgreichen haben eines gemeinsam: Sie haben erst ihre menschlichen Prozesse verstanden und dann die Technologie eingeführt.

Das globale AI-Rennen dürfen wir nicht verlieren, weil wir zu lange zögern und uns nur mit Bedenkenträgerei aufhalten. Aber ein solches Langstrecken-Rennen gewinnt man nicht, indem man kopflos lossprintet. Man gewinnt es, indem man trainiert, die richtige Strategie wählt, seine Kräfte klug einteilt und taktisch klug auf Unerwartetes reagiert.

Mit den FOMO-getriebenen 95%-Projekten dürften also weiter Millionen verbrannt werden. Die etwas zögerlicheren 5% werden die KI-Revolution voraussichtlich nicht nur «überleben» – sie werden mit einiger Wahrscheinlichkeit langfristig definieren, wo 'Künstliche Intelligenz' in der Arbeitswelt wirklich wirkt: nicht in der Auslagerung des menschlichen Denkens, sondern in seiner Verstärkung.

Der Wettbewerbsvorteil liegt nicht in der KI selbst. Er liegt darin, nachzudenken, bevor die KI es für Sie tut.